-
Michael Ronner Experte für Technik & Hörakustik
Die Abkürzung «OTC» steht für «over the counter» (deutsch «über den Tresen») oder rezeptfreie Hörgeräte. Der weltweite Trend von schnellen und billigen Hörlösungen nimmt aktuell zu. Doch was raten Experten zu OTC-Versorgungen und was sind Vor- und Nachteile? Ein Überblick über die wichtigsten Infos.
OTC (Over-The-Counter) oder auch DTC- (Direct to Customer) Hörgeräte können Sie heute einfach und direkt über verschiedenste Kanäle beziehen, sei es über den Onlineshop bei Amazon©, ebay©, ricardo© und co. oder im Handel. Doch wie gut funktionieren solche freiverkäufliche Einsteigergeräte und wie wird der Datenschutz über das Smartphone gewährleistet und sollte man überhaupt bei der Gesundheit sparen?
Over the Counter Hörgeräte (kurz OTC) von WSA.
Was bedeutet Over-The-Counter?
Over-The-Counter hat per se noch nichts mit Hörgeräten zu tun und ist primär eine Bezeichnung für Produkte, welche rezeptfrei an den Endkonsumenten oder Patienten verkauft werden dürfen. Es ist also keine Verschreibung vom Arzt nötig. Diese OTC-Produkte sind kategorisiert, geprüft und werden von einer staatlichen Behörde als so eingestuft, dass der Verkauf keine Fachliche Beratung benötigt.
Was sind OTC Hörgeräte?
OTC Hörgeräte können nach einem einfachen Hörtest und einer schnellen «First-Fit» Anpassung an Betroffene verkauft werden. Dies dauert in der Regel keine halbe Stunde. Neu gibt es sogar OTC-Hörgeräte, welche Kunden selber anpassen können. Einfach mit dem Smartphone koppeln, einen Hörtest über die zugehörige App durchführen, Grundkonfigurieren und los hören.
Ein deutlich günstigerer Preis und die Zeitersparnis dieser Geräte, sollen OTC-Geräte im Vergleich zu den klassischen Hörgeräten für Hörgeschädigte schneller zugänglich und attraktiv machen.
Ziel der Unterstützung von OTC Hörgeräten durch Regierungen ist oftmals, Menschen mit weniger Kaufkraft niederschwelligen Zugang zu Hörsystemen zu ermöglichen, so dass auch diese sich ein Hörgerät leisten und von einem besseren Hören profitieren. Gerade in den USA haben nach Angaben der FDA schätzungsweise 38 Millionen Menschen einen gewissen Grad an Hörverlust. Somit könnte ihnen der Staat den Zugang zu besserem Hören sichern und dabei im Gesundheitssystem viel Geld sparen.
In der Schweiz mit einem international vorbildlichen Gesundheitssystem, einem engmaschigen Netzwerk mit kurzen Distanzen, wo alle Schweizer: innen Zugang haben zu einer qualitativ hochstehenden Grundversorgung, sind OTC Hörgeräte kein so grosses Thema und im Gegensatz zum Ausland schon länger am Markt. Apotheken und Drogerien bieten seit Jahren günstigere Hörgeräte an, welche nach einem simplen Hörtest, einer schnellen Einstellung und ohne Nachkontrolle verkauft werden.
Durch den geringen Verkaufspreis und der tiefen Marge ist eine Nachbetreuung auch schlichtweg nicht rentabel. Schlussendlich muss auch ein Apotheker oder Drogist etwas verdienen, was eine aufwändige Nachkontrolle ausschliesst. Beim Kauf über einen Onlinekanal wird dies nicht anders sein, da jedes Geschäfstmodell Ende Monat rentieren muss und bei Geräten unter 1000 Franken lediglich über die Menge und über einen überschaubaren personellen Aufwand möglich ist. Es wird Geschäftsmodelle geben, welche zu Beginn in den Support investieren und diesen künftig vernachlässigen werden, sobald diese Marktanteil gewonnen haben.
Bei einer wichtigen gesundheitlichen Anschaffung wie bei Hörgeräten gilt es solche Fakten zu beachten, bevor man sein Geld blauäugig und schnell in solche Semiprofessionelle Geräte investiert und danach enttäuscht ist.
Mit OTC Hörgeräten Krankheiten nicht erkennen
So simpel OTC Hörgeräte für Einsteiger sind, so sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich hinter jedem Hörverlust auch eine Krankheit verbergen kann. Tumore, Entzündungen und Verletzungen sind nur einige Indikationen, welche eine Schwerhörigkeit hervorrufen können. Selbst ein simpler Ohrpfropf wird bei einer eigenen Anpassung von OTC Hörgeräten nicht erkannt.
Wird eine lebensbedrohliche Krankheit wie ein Tumor zu spät erkannt, kann dies katastrophale Folgen haben.
Um Risiken vorzubeugen, so wird nach wie vor ein Besuch beim Ohrenarzt empfohlen. Das Wegfallen eines HNO-Arzt Besuchs erleichtert zwar ebenfalls den Zugang, spart aber viel Geld, wenn sich danach herausstellt, dass lediglich ein verstopftes Ohr der Grund für die Hörstörung war.
Auch Hörgeräteakustiker sind mehrjährig ausgebildete Fachexperten, wenn es ums Gehör geht. Diese machen eine gründliche Anamnese, begutachten das Ohr auf Auffälligkeiten (Otoskopie) und führen eine professionelle Tonaudiometrie und Sprachaudiometrie in einer zertifizierten Hörkabine durch. Bei Auffälligkeiten welche auf eine Krankheit weisen, übermitteln diese sogleich an einen Ohrenarzt.
Für wen sind OTC-Hörgeräte geeignet?
OTC-Hörgeräte richten sich primär an Betroffene mit einer beginnenden Schwerhörigkeit, für welche sich eine individuelle Anpassung schlichtweg nicht lohnt und welche durch den geringen Hörverlust keine Zuzahlung der AHV und IV erhalten.
Ab einem bestimmten Hörverlustgrad lohnt es sich indes auf ein professionelles Hörgerät umzusteigen. Es hat einen Grund, weshalb die Sozialversicherungen, Unfall- und Militärversicherungen in der Schweiz eine Mindestschwelle beim Hörtest für eine Zuzahlung an Hörgeräte definiert haben. Gerade bei der Arbeit ist es ungemein wichtig, in einer hochwertigen Art zu verstehen. Hier werden professionelle Hörhilfen gefördert, welche das Maximum an Hören hervorholt.
Wenn Sie einen Bekannten oder Nachbar haben, welcher von OTC-Hörgeräten schwärmt, so beachten Sie immer, dass dieser unter Umständen einen geeigneten Hörverlust hat. Ihr persönliches Gehör ist einzigartig und unter Umständen nicht geeignet für dasselbe Modell. Es ist wichtig, immer verschiedenen Modelle miteinander zu vergleichen. Tipp: Vergleichen Sie ruhig ein OTC-Hörgerät mit einem professionellen Hörgerät und nehmen Sie sich Zeit zum testen und vergleichen. Ein Hörgerät ist eine Investition in die Zukunft, also mindestens für die nächsten 5 Jahre.
Gefahr der Unterversorgung durch OTC-Hörgeräte
Durch die tiefen Hörgeräte Preise solcher OTC-Hörgeräte besteht gemäss einigen Experten die Gefahr der Unterversorgung durch OTC-Hörgeräte. Dies auf Grund dessen, dass sich zunehmend auch in der Medizin eine sogenannte «Geiz-ist-Geil» Mentalität einschleicht. Viele Menschen investieren lieber in «Spassmacher». So ist dies in der Gesundheit auch lieber ins Fitness als ins Gehör.
Gerade das Hörgerät ist ein Produkt, was eigentlich niemand möchte. Trotzdem ist der Nutzen ab bestimmten Hörverlustgraden unbestritten und hilft Diskrimination Vorzubeugen.
Durch die günstigen Einstiegsprodukte bestehe das Risiko, dass künftig viele Nutzer zu lange mit OTC-Hörgeräten am Ohr herumlaufen und ab einem bestimmten Zeitpunkt unterversorgt bleiben, da die Geräte nicht stärker nachgestellt werden können.
Der Grenzwert (maximale Ausgangsleistung) dieser OTC-Hörgeräte ist zum Eigenschutz nach oben abgeriegelt, so dass sich Kunden mit diesen Geräten nicht noch einen grösseren Hörschaden zufügen können.
Zudem fördern günstige OTC-Hörgeräte das «Lädelisterben». Regionale Hörakustiker mit ihren teuren Fixkosten werden von Onlineangeboten vom Markt gedrängt. So müssen ältere Menschen mit stärkeren Hörverlusten künftig in die zentrale Stadt, wo es sich noch lohnt, ein Hörgerätefachgeschäft zu betreiben. Aber gerade im Alter sind viele nicht mehr mobil und würden sich den Hörakustiker vor Ort wünschen.
Professionelle Hörgeräte können nachgestellt werden
Während OTC Hörgeräte für leichte Hörverluste geeignet sind, können professionelle Hörgeräte leichte bis starke Hörverluste versorgen. In der Regel verschlechtert sich ein Hörverlust im Laufe des Lebens.
Wichtig:
Es sollte bedacht werden, dass selbst wenn ein OTC-Hörgerät von einer der zuständigen Versicherungen bezahlt wird, diese maximal alle 5 oder 6 Jahre einen Beitrag an Hörsysteme leisten. Sollte sich das Gehör in diesen Jahren verschlechtern und das OTC-Hörgerät an den Anschlag kommen, so muss bis zur nächsten Beitragsrunde gewartet oder neue Hörgeräte privat gekauft werden. Dann fährt man mit professionellen Hörgeräten, welche nachgestellt werden können günstiger.
Professionelle Hörgeräte können aber nicht nur nachjustiert werden, sondern haben auch bessere Filter, Chips mit höherer Rechenleistung und mehr Kanäle für eine feinere Auflösung. Man glaubt es kaum, aber jedes Dezibel zählt bei einem Hörverlust. Fragen Sie mal einen langjährigen Hörgeräteträger, welcher auf seine wertvollen Helfer angewiesen ist. Es hat einen Grund, wieso professionelle Hörgeräte mehr kosten.
OTC Hörgeräte sind zu vergleichen mit Lesebrillen – während professionelle Hörgeräte zwar teurer, aber auch wirksamer sind.
Wo kann man OTC-Hörgeräte kaufen?
Moderne OTC-Hörgeräte können Sie heute online, in Apotheken, Drogerien, im Detailhandel oder gar bei bestimmten Hörakustikern kaufen. Gesetzliche Rahmenbedingungen bezüglich Datenschutzes usw. wurden vom Parlament bislang nicht festgelegt.
Zumindest beim Kauf über Onlinekanäle ist ein Missbrauch der Geräte deswegen nicht abzusprechen. Denn die meisten OTC-Hörgeräte sind koppelbar mit dem Smartphone und künftige OTC-Geräte werden mit Bewegungssensoren ausgestattet sein.
Ein Kauf über den Onlinehandel ist deswegen zweimal zu überlegen, denn private Daten haben einen Gegenwert. Somit sind die vermeintlich günstigen OTC-Hörgeräte Schlussendlich doch nicht so günstig.
Einstiegshörgeräte bei Hörakustiker zum Nulltarif
Was viele nicht wissen, dass es bei vielen Hörakustikern professionelle Hörgeräte zum Nulltarif gibt. Dies bedeutet, dass die Versicherungen wie die AHV oder IV eine Kostenbeteiligung an den kompletten Hörgerätepreis leisten.
Hierbei handelt es sich um bekannte Marken von weltweit führenden Hörgeräteherstellern wie Phonak, Oticon und Signia mit seinem beliebten Im-Ohr Hörgerät Signia Silk X.
Nicht zu unterschätzen professionelle Beratung und die Hilfe bei Problemen eines erfahrenen Hörakustikers.
Fazit: OTC-Hörgeräte vs. professionelle Hörgeräte
Abschliessend gilt es festzuhalten, dass OTC-Hörgeräte lediglich als erster Schritt in Richtung Hörgeräteversorgung dienen. Aus Erfahrung in der Schweiz, kaufen OTC-Konsumenten gut ein Jahr nach einer solchen Beschaffung doch noch professionelle Hörgeräte. Dies aus dem einfachen Grund, weil viele auf den Geschmack kommen und mehr möchten, OTC Geräte aber nicht mehr leisten.
Beim Vergleich mit professionellen Hörgeräten bemerken viele Einsteiger den grossen Unterschied von den günstigen OTC-Hörsystemen zu den komplexen und hochtechnologischen Hörgeräten.