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Adrian Meier Redaktor für Gesundheit
Misophonie ist eine neurologische oder psychische Störung. Betroffene empfinden Stress, Abscheu oder Ekel in Verbindung mit bestimmten Geräuschen. Insgesamt ist es eine sehr seltene Störung, die bisher nicht offiziell als Krankheit anerkannt ist.
Bei der Misophonie handelt es sich um ein recht junges Krankheitsbild. Anfang des 21. Jahrhunderts wurde es durch zwei US-amerikanische Neurowissenschaftler erstmals beschrieben und benannt. Die Misophonie wird es schon länger, nur wurde die Störung nicht als diese erkannt. Die zunehmende Belastung unserer Sinne in der modernen Welt spielen dabei sicherlich eine Rolle.
Die Misophonie ist auch unter "Selective Sound Sensitivity Syndrome" bekannt. In deutscher Sprache übersetzt, heisst das "selektives Geräuschempfindlichkeits-Syndrom". Durch diese Bezeichnung wird schnell klar, worum es bei dieser Störung geht. Der empfindliche Hörsinn Betroffener reagiert überreizt auf bestimmte Geräusche. Die Lautstärke der Geräusche ist dabei nicht ausschlaggebend. Kauen, ein tropfender Wasserhahn oder Schmatzen bringen Betroffene in Rage und lassen Sie ausflippen.
Inhaltsverzeichnis
Symptome der Misophonie
Misophonie bedeutet wortwörtlich „Hass auf Geräusche» (vom griechischen: misos ‘Hass’ und phonia ‘Geräusch’). Durch diese radikalere Namensgebung zeigt sich deutlich der Unterschied zu anderen Übersensibilitäten des Gehörs.
Auf Schmatzen und Essenslaute reagieren Misophobie-Betroffene panisch oder aggressiv.
Die etwas häufiger vorkommende Hyperakusis bezeichnet eine generelle Überempfindlichkeit gegenüber Schallwellen. Dabei ist es gleichgültig, welche Art von Botschaft der Schall transportiert. Misophoniker dagegen verbinden bestimmte Geräusche mit einem heftigen emotionalen Reiz. Dabei können theoretisch alle Arten von Geräuschen als Trigger (Auslöser) fungieren.
Allerdings gibt es eine auffällige Häufig dieser Geräusche und Zusammenhänge:
- Essgeräusche und Schmatzen von Menschen
- sich monoton wiederholende Geräusche (Tastaturtippen, Klopfen gegen die Tischplatte u.ä.)
- Regentropfen, die gegen Scheiben prasseln
- tropfende Wasserhähne, tickende Uhren u.ä.
- Geräusche von Plastik-, Kunststoff-, Alu- und Cellophanfolien
- Atemgeräusche, Räuspern oder Rachengeräusche von Menschen
- bestimmte Stimm- und Tonlagen
- eine bestimmte Betonung von Konsonanten oder Vokalen
Typisch für Misphonie ist die extreme Abwehrreaktion. Es bleibt bei dieser Störung nicht nur bei einem unangenehmen Gefühl. Misophoniker entwickeln heftige Emotionen des Hasses und der Wut, sobald der Trigger ertönt. Entweder möchten Betroffene in Rage gegen das Geräusch oder den Verursacher vorgehen oder sich so schnell wie möglich entfernen.
Diagnose einer Misophonie
Bisher ist die Misophonie keine akzeptierte Erkrankung. Sie wird noch nicht in den offiziellen Klassifikationssystemen psychischer Störungen und Erkrankungen geführt. Gemäss dem Leiter des Neuropsychologischen Institutes an der Universität Zürich Prof. Lutz Jäncke ist die Misophonie bisher noch sehr selten.
Betroffene sollten sich dennoch nicht scheuen, einen HNO Ohrenarzt, Psychotherapeuten oder Verhaltenstrainer aufzusuchen.
Um die Symptome von anderen auditiven Störungen abzugrenzen, wird zunächst ein Fragenkatalog abgearbeitet. Misophonie und andere Hörsensibilitäten wurden in der Vergangenheit häufig mit ADHS, Hochsensibilität oder Depressionen verwechselt.
Die Diagnosemethoden zur Misophonie selbst sind derzeit noch keinem Standard unterworfen. Gängig ist die Verwendung der Misophonia Questionnaire (MQ), um die Symptome und deren Schweregrad zu ermittelt. Der Test besteht aus diversen Fragebögen und Bewertungsskalen:
Misophonie-Emotions- und Verhaltens-Skala
Der Fragenkatalog prüft unter anderem, wie stark sich Betroffene der heftigen emotionalen Abwehrreaktion auf ein Geräusch bewusst sind. Als Nächstes werden die vorkommenden Reaktionsmuster eingeordnet.
Überprüft werden ausserdem Zusammenhänge mit bestimmten Orten und Menschen. Daneben beleuchtet der Arzt das Reaktionsschema. Möchte ein Betroffener die Flucht ergreifen, sich die Ohren zuhalten oder sogar angreifen, wenn das Trigger-Geräusch hörbar wird?
Misophonie-Symptom-Skala
Die Skala bewertet die Empfindlichkeit des Patienten gemessen am normalen sozialen Umfeld. Im Zuge der Prüfung muss sich der Betroffene selbst „im Vergleich zu anderen Menschen“ einordnen und benoten.
Daneben werden die Art und Herkunft des Trigger-Geräusches ermittelt (essende Menschen, monotone Wiederholungen, Umweltgeräusche usw.).
Amsterdam Misophonia Scale (A-MISO-S)
Der letzte Bewertungsbogen ermittelt, wie sehr die empfundene Störung das Alltagsleben eines Menschen beeinflusst. Wie viel Zeit geht durch die Auswirkungen der Störung verloren und inwieweit sind die Lebensqualität und Arbeitsleistung dadurch eingeschränkt?
Weitere Untersuchungsmethoden sind der Misophonia Assessment Questionnaire (MAQ) und die Misophonia Activation Scale (MAS-1). Beide unterscheiden sich jedoch nur in Detailfragen von den bereits vorgestellten Testverfahren. Von der Fachwelt sind sie derzeit weniger anerkannt.
Ursachen von Misophonie
Die US-amerikanischen Forscher Pawel und Margaret Jastreboff fanden heraus, dass sich Misophonie überwiegend in der Pubertät entwickelt. Das ist dahingehend logisch, als sich in der Pubertät das Gehirn am stärksten entwickelt. Der Frontalkortex und der auditive Kortex werden in dieser Zeit besonders intensiv ausgebildet. Junge Menschen beginnen feiner zu hören und Gehörtes anders zu bewerten.
Ein tropfender Wasserhahn kann bei Misophobie eine starke Reaktion hervorrufen
Hirnscans von betroffenen Menschen haben gezeigt, dass die auditive Reizverarbeitung im Gehirn von Misophonikern anders ist, als bei Menschen ohne Störung.
Was schlussendlich zu dieser Fehlentwicklung führt, ist noch nicht vollständig erforscht. Möglich sind unter anderem:
- Eine unbewusste Konditionierung - Misophoniker verbinden negativen oder traumatischen Ereignissen mit den Trigger-Geräuschen.
- Eine allgemeine Überlastung des Hörsinnes - Misophonie richtet sich zwar nicht nach der Lautstärke der Geräusche. Eine Fehlbildung des Hörzentrums im Gehirn aufgrund allgemeiner Sinnes-Überlastung (Reizüberflutung oder auch zu laute Musik, Kopfhörer usw.) ist nicht völlig auszuschliessen.
- Eventuell verbergen sich anatomische und persönliche Veranlagungen hinter der Störung.
Therapie der Misophonie
Die aktuellen Therapie-Ansätze richten sich nach der jeweiligen Fehlentwicklung. Liegt der Verdacht einer Konditionierung vor, arbeitet Psychologen vorzugsweise mit der Gegenkonditionierung.
Beispiel: Während die gehässige Grossmutter einen jungen Menschen mit emotional denunzierenden Reden überzog, ass sie häufig einen Apfel. Das Schmatz-Geräusch der Grossmutter hat sich in die emotionale Wahrnehmungsfilterung des Menschen eingebrannt. Als Misophoniker entwickelt er später einen Hass auf das Essgeräusch. Insgeheim verbindet er es mit den entwürdigenden Reden der Grossmutter und damals unterdrückte Emotionen steigen auf.
Ohrenstöpsel oder Kopfhörer werden bei Misophobie im Alltag gerne eingesetzt.
In diesem Fall könnte allein der Erkenntnisprozess schon eine Erleichterung bringen. Weiss ein Mensch, wieso er auf eine gewisse Weise reagiert, hören Schuld- und Bestrafungsmuster auf.
Im Rahmen einer Gegenkonditionierung wird das Essgeräusch eines Apfels (Schmatzen) mit positiven Erlebnissen verbunden. Das Gehirn akzeptiert die neue Information nach einigen Wiederholungen und speichert diese dann als aktuelles Reaktionsmuster ab. Die misophonische Reaktion verschwindet bestenfalls.
Kann die Ursache einer Hassreaktion auf ein Geräusch nicht gefunden werden, arbeiten Therapeuten mit diversen Entspannungsmethoden. Der Patient lernt, die emotionale Reaktion zu kontrollieren. Bestenfalls verschwindet die Störung von selbst, wenn sie nicht mehr ausgelebt wird.
Bewährt haben sich in diesem Zusammenhang:
- Autogenes Training
- Hypnose
- Progressive Muskelentspannung
- Yoga
- Thai-Chi
- Meditation
Bei unklaren Ursachen und starker Belastung durch Misophonie kann sich eine Hypnosetherapie lohnen. Der Hypnosetherapeut wird versuchen, die Ursache aufzufinden und Gewohnheiten in mehreren sanften Schritten dauerhaft positiv verändert. Da der Patient in einer leichten Trance ist, können Informationen auftauchen, die sonst von Unterbewusstsein unterdrückt werden.
Ohrenstöpsel oder Kopfhörer werden von Betroffenen im Alltag ebenfalls gerne eingesetzt, um sich bewusst von bestimmten Geräuschen abzuschotten.
Dauer einer Misophonie
Eine Misophonie kann mehrere Jahre unentdeckt bleiben. Betroffene merken die Störung manchmal erst, wenn zusätzliche Belastungen hinzukommen. Oder das eigene Reaktionsmuster war so lange nicht bewusst, bis ein Aussenstehender einen Betroffenen darauf hinweist. Andere wiederum reagieren schon ein Leben lang übersensibel und haben sich daran gewöhnt Emotionen zu unterdrücken.
Leichte misophonischen Störungen können mit einer Anpassung des Lebensstils wieder verschwinden. Wer zum Beispiel Stress reduziert, kann allgemeine nervliche Überlastungssymptome verschwinden lassen und ist so beschwerdefrei. Schwerwiegende emotionale Reaktionsmuster dagegen können untherapiert ein Leben lang bestehen bleiben.
Misophonie vorbeugen
Da sich die neurologische Störung meistens in der Pubertät und schleichend ausbildet, ist im Nachhinein kaum mehr eine Vorbeugung möglich. Ein Gehörschutz wie zum Beispiel ein Ohropax um sich von der Aussenwelt abzukapseln, ist keine nachhaltige Lösung.
Sobald die Übersensitivität auffällt, sollten sich Betroffene ernsthaft mit ihr auseinandersetzen. Heftige und wiederkehrende emotionale Reaktionsmuster dürfen nicht abgewertet und verdrängt werden. Selbst wenn das soziale Umfeld eine Störung oder Empfindlichkeit nicht ernst nimmt, müssen Betroffene sich selbst ernst nehmen und so früh wie möglich Hilfe suchen.
Betroffene, die ihre Trigger kennen, können natürlich versuchen, diese so weit wie möglich zu meiden. Junge Menschen, die bei sich eine Überempfindlichkeit des Gehörs oder Reaktionen auf Trigger-Geräusche feststellen, sollten frühzeitig einen Arzt aufsuchen.